Resümee

lm Januar 1871 ist in Versailles das Deutsche Reich gegründet worden. Der preußische König Wilhelm I. wurde Deutscher Kaiser. Damit entstand mitten in Europa ein neuer Staat, den es in dieser Form nie gegeben hatte. Es dauerte etwa ein bis zwei Jahrzehnte, bis der junge Nationalstaat eine die deutschen Bundesländer zusammenfassende Infrastruktur ausgebildet hat. Die Erfahrungen des preußischen Staates sind dabei in vieler Hinsicht richtungweisend gewesen.
Im Verlauf des Ausbaus der Verwaltungsstrukturen und der politischen Organe des Reiches wurden zahlreiche Gebäude für Reichsämter, Reichsministerien und andere Instanzen gebaut. Mit Spannung konnte erwartet werden, in welchem Baustil das Deutsche Reich seine Staatsbauten errichten würde, denn die Epoche des Historismus baute bis in den Anfang des 2o. Jahrhunderts hinein in historischen Stilformen. Die Architekturgeschichte von der Antike über das Mittelalter bis zum Barock ist ihr eine unerschöpffiche Quelle von Vorbildern gewesen. Wie bei allen anderen Bauvorhaben auch, stellte sich den Auftraggebern und Architekten die für das 19. Jahrhundert charakteristische Frage: »In welchem Stile sollen wir bauen?« In das Zentrum entsprechender Diskussionen rückte das Parlamentsgebäude des Deutschen Reiches, der monumentale Neubau für den Reichstag und den Bundesrat.
In der Weise, wie auch der Ausbau der Reichsregierung erst allmählich voranschritt es gab anfangs nur wenige Reichsämter und keine Ministerien entwickelte sich auch das Staatsbauwesen des Kaiserreiches nur zögerlich. Eine eigene Bauabteilung ist erst um 1877 beim Reichskanzleramt angesiedelt worden, 1884 kam sie an das Reichsamt des Inneren. Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck beobachtete durchaus sorgfältig die Arbeit seiner Baubeamten und drängte stets auf eine möglichst schnelle sowie kostengünstige Realisierung der anstehenden Neubauten. In Baufragen ganz Pragmatiker ließ er jedoch eine dynamische, eigenständige Entwicklung der Reichsbauabteilung nicht zu, unterstellte sie vielmehr der Superrevision durch das preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten. Wichtige Entwürfe mußten außerdem der preußischen Akadernie des Bauwesens zur Begutachtung unterbreitet werden. Es ist auch nicht im Sinne des Reichskanzlers gewesen, hervorragende Architekten einzustellen. So litt die Reichsbauabteilung einersei aihrer Rückbindung an Preußen, andererseits an ihrer schwachen personellen Besetzung. Viele Aufgaben erledigte die Bauabteilung im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten. Das Reich lief damit Gefahr, preußisch zu bauen (was gewiß nicht im Sinne der anderen Bundesländer sein konnte). Größere Eigenständigkeit erlangten nur die vom Reichskanzleramt beziehungsweise dem Reichsamt des Inneren unabhängigen Bauabteilungen der Reichseisenbahn, der Reichsmarine und vor allem der Reichspost, letztere einer der größten Auftraggeber für öffentliche Architektur im Deutschen Kaiserreich.
Wenn es dem Deutschen Kaiserreich trotz seiner engen Anbindung an Preußen gelungen ist, ein eigenes architektonisches Profil zu gewinnen, dann hatte das seine Ursache in einigen entscheidenden Beschlüssen des Reichstages. Mit der durch das Plenum des Reichstages mehrfach erfolgreich erhobenen Forderung nach Ausschreibung öffentlicher Wettbewerbe die der preußischen Bauverwaltung ein kaum genutztes, eher ungeliebtes Instrument gewesen sind gelang es, der preußischen Dominanz einen Riegel vorzuschieben. Die Wettbewerbskommissionen für Reichsbauten sind stets mit hochqualifizierten Architekten verschiedenster Richtungen und Schulen besetzt gewesen. Sie kamen keineswegs nur aus Preußen, sondern auch aus den westlichen und südlichen Bundesländern und aus Österreich. Wettbewerbe für die großen Staatsbauten des Kaiserreiches hat insbesondere auch die deutsche Architektenschaft mit Nachdruck gefordert. Damit drängten die Privatbaumeister, deren Zahl beständig zugenommen hatte, in das öffentliche Bauwesen hinein.
Eine erste architektonische Richtungsentscheidung für Staatsbauten des Deutschen Kaiserreiches war die Auswahl von Ludwig Bohnstedts Neurenaissanceentwurf für ein Reichstagsgebäude im ersten Wettbewerb von 1872. Der Reichstag griff wenig später auch in die Planung des Kollegiengebäudes für die KaiserWilhelmUniversität in Straßburg ein. Er kippte einen Vorschlag des Universitätsbaumeisters Hermann Eggert, der aus der preußischen Bauverwaltung kommend in das Reichsland versetzt worden war. Auf dem Wege des nun durchgefiihrten Wettbewerbes konnte ein Entwurf von Otto Warth zur Ausführung bestimmt werden, der aus dem Südwesten des Reiches kam und nicht in der Berliner Schule ausgebildet worden war. Der Baustil war hier ebenfalls internationale Neurenaissance. Auch der Entwurf für das Reichsgericht in Leipzig war aus einem offenen Wettbewerb hervorgegangen. Als 1882 der aus dem zweiten Reichstagswettbewerb ausgewählte Entwurf von Paul Wallot zur Ausführung bestimmt worden ist, setzte das Deutsche Reich ein deutli architektonisches Zeichen. Mit dem Reichstagsgebäude gelang ihm gegen den massiven Widerstand der preußischen Akademie des Bauwesens die endgültige Emanzipation vom preußischen Klassizismus und der von ihm in Berlin geprägten schlichten Neurenaissance. Der Baustil für Staatsbauten des Deutschen Reiches war von der Reichsgründungsära bis in die 1890er Jahre hinein internationale Neurenaissance.
Einer der politisch brisantesten Orte für Bauten des Kaiserreiches war das Reichsland ElsaßLothringen. Die heterogene Bevölkerungszusammensetzung aus Franzosen und Deutschen konnte bei den Entscheidungen für öffentliche Neubauten nicht unberücksichtigt bleiben. Wie umstritten die Beanspruchung dieses Gebietes durch das Deutsche Reich politisch auch gewesen war, so zeigt sich doch in der Architektur der dort errichteten Reichsbauten Sensibilität für die vorgefundene Situation. In der Hauptstadt ElsaßLothringens, Straßburg, wurde nicht preußisch gebaut, und es ist auch nicht der Versuch gemacht worden, in irgendeiner Weise deutsch zu bauen. Die wichtigsten Bauten entstanden im Stil der internationalen Neurenaissance. Der Kaiserpalast reagierte in seinem Dekor und seiner Ausstattung sogar unübersehbar auf den an der Pariser École des BeauxArts gepflegten Geschmack. Die noch immer sehr gut erhaltenen öffentlichen Bauten in der kaiserzeitlichen Neustadt waren ein versöhnliches, werbendes Angebot an die Elsässer ueine nationalistische Machtdemonstration.
Mit der internationalen Neurenaissance stellte sich das Deutsche Reich neben die großen Nachbarländer Frankreich und Österreich. Dabei ging es gewiß nicht darum, die in der Entwicklung der Architektur fiihrenden europäischen Hauptstädte Paris und Wien zu überbieten. Die in Wien im Stil der Neurenaissance für Politik und Kultur errichteten Gebäude sind um ein Vielfaches aufwendiger als vergleichbare Neubauten in Berlin, Leipzig und Straßburg. Das Deutsche Reich stand ja auch noch ganz am Anfang seiner Entwicklung, es verfügte über keinerlei Erfahrungen mit einer Architektur auf einer nationalen Ebene, oberhalb der deutschen Bundesländer. Außerdem haben die föderativen Strukturen dem Reich selbst gar nicht genug Ressourcen zukommen lassen, um Staatsrepräsentation im großen Stil betreiben zu können, immer wieder rückte die Kostenfrage in den Vordergrund. Viele öffentliche Bauaufgaben sind auch weiterhin von den Bundesländern wahrgenommen worden, die dabei ihren eigenen Traditionen folgten. Das zeigte sich in Prn in aller Deutlichkeit, denn dieses Land errichtete in der Zeit des Kaiserreiches eine bis heute noch gar nicht vollständig gewürdigte Fülle sehr eindrucks- und qualitätvoller Verwaltungsbauten, an deren Zahl die Reichsbauten bei weitem nicht heranreichen. Eine architektonische Entwicklung wie in Wien oder der Hauptstadt des straff zentralisierten französischen Staates, Paris, konnte sich aufgrund der politischen Strukturen des jungen Deutschen Reiches in Berlin gar nicht einstellen.
Die Diskussionen über eine dem Deutschen Reich angemessene Architektur konzentrierten sich von Anfang an auf das Reichstagsgebäude. Nach der Reichsgründung wollten die Nationalliberalen es - analog zu den Nationaldenkmälern als ein Erinnerungsmonument für die Reichsgründung und den Sieg über Frankreich errichtet wissen. Über diese Zielsetzung bestand allerdings keineswegs Einhelligkeit, außerdem wandelte sich die politische Stimmungslage bis zur Ausschreibung des zweiten Reichstagsbauwettbewerbes im Jahr 1882: jetzt standen die Anforderungen an die Nutzung des Gebäudes im Vordergrund. Paul Wallots Entwurf wurde vor allem gewählt, weil er die Schwierigkeiten der Grundrißgestaltung überzeugend gelöst hatte. Wallot wählte wie die meisten anderen Wettbewerbsteilnehmer den Stil der internationalen Neurenaissance. Dabei neigte er zu einem besonderen Dekorreichtum, denn er war ein großer Verehrer von Charles Garnier, dem Architekten der Pariser Oper, und der Neurenaissance der Pariser Schule. Obwohl Wallot nichtn Pis studiert hatte, war er mit der Üppigkeit der Architektur des Reichstagsgebäudes, dem wichtigsten Repräsentationsbau des Kaiserreiches, noch weit über das hinausgegangen, was Architekten wie Friedrich Hitzig und Richard Lucae im öffentlichen Bauwesen Preußens in den Formen einer vergleichsweise schlichten Neurenaissance verwirklicht hatten. In diesem Sinne war die Architektur des Reichstagsgebäudes nicht nur international, sondern in gewisser Weise analog zu einem mittelalterlichen Begriff für die französische Gotik opus francigenum.
Im Unterschied zur Außenarchitektur ist das Innere des Reichstagsgebäudes weitgehend im Stil der deutschen Renaissance gestaltet worden. Mit der aus Holz geschaffenen Innenausstattung der Sitzungssäle und Büros wurden eigenständige Akzente gesetzt, denn in Paris oder Wien wäre für einen Bau dieser Kategorie selbstverständlich Marmor verwendet worden (wie er ja im Inneren des Straßburger Kaiserpalastes bezeichnenderweise auch eingesetzt worden war). Die deutsche Renaissance bildete in der Architektur des Historismus eine Mode der 1880er Jahre und traf auf große Resonanz beim deutschen Bürgertum, das sich mit dem 16. Jahrhundert und seiner Kunst bevorzugt identifizierte, weil es in dieser Epoche die Wurzeln des bürgerlichen Zeitalters sah. Mit der Innenausstattung des Reichstagsgebäudes haben die im Reichstagsplenum versammelten Bürger ihren politischen Versammlungsort ihrem Geschmack entsprechend gestaltet. Paul Wallot erwies sich hierin als idealer Partner.
Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts setzten Entwicklungen ein, die der Architektur und der Kunst folgenreiche Veränderungen gebracht haben. Im Zuge eines letztmals aufblühenden Stilpluralismus verlor die internationale Neurenaissance (und wenig später auch die kurzzeitig aufgeblühte deutsche beziehungsweise nordische Renaissance) ihre Vorrangstellung im öffentlichen Bauwesen der westlichen Welt. Reformbewegungen veränderten das gesamte Baugeschehen folgenreich, die Architektur der Stile spielte im Siedlungs und Industriebau kaum noch eine Rolle. Zugleich wurde ein letztes Mal ein historischer Baustil beschworen: der Klassizismus der Zeit um 1800. Der Neoklassizismus bot sich in vieler Hinsicht für repräsentative öffentliche Gebäude an, denn er verband in eigentümlicher Weise Tradition und Fortschritt miteinander. Seine Beliebtheit fiel in die Zeit einer verschärften nationalen Stimmung. Viele Architekturkritiker deklarierten ihn zu einem Staatsbaustil preußischdeutscher Couleur. Aber nur Preußen reagienachdrücklich darauf und errichtete nach der Jahrhundertwende eine Fülle seiner öffentlichen Neubauten in diesem Stil. Für die spezifische Entwicklung in Preußen hat die von Schinkel ausgehende Bautradition eine wichtige Rolle gespielt, denn die preußische Schule trennte sich während des gesamten 19. Jahrhunderts trotz ihrer Hinwendung zu einer maßgeblich von Friedrich August Stüler geprägten, sehr schlichten Neurenaissance im öffentlichen Bauwesen Berlins nie wirklich vom Klassizismus.
Das Deutsche Kaiserreich baute im Unterschied zu Preußen nur selten neoklassizistisch: die KaiserlichDeutsche Botschaft in St. Petersburg und das etwas konservativere Reichsmarineamt in Berlin. Es war wohl kein Zufall, daß mit der Botschaft in St. Petersburg gerade ein Bau aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes im neoklassizistischen Stil entstand, denn dieses Amt war unmittelbar aus dem preußischen Ministerium der Auswärtigen Angelegenheit heraus entwickelt worden. Für die von Peter Behrens, einem eher konservativen Vertreter unter den reformorientierten Architekten, entworfene Botschaft in St. Petersburg wurde das Reich vielfach beglückwünscht. Viele Kritiker meinten, nun endlich einen Staatsbaustil entdeckt zu haben, der dem Kriterium nationaler Exklusivität in vollem Umfange genüge. Das Kaiserreich hat den Neoklassizismus dennoch nicht umfassend für sich in Anspruch genommen, die Botschaft in St. Petersburg blieb eine Ausnahme. Der kurze Zeit später ausgewählte Entwurf Bruno Möhrings für eine (nicht realite) Botschaft in Washington fiel in einen schlichten, konservativen Neubarock zurück. Als es zu klären galt, ob der Neoklassizismus lediglich eine spezifisch preußische Erscheinung darstelle oder ob er Gültigkeit für die Staatsbauten des Reiches haben könnte, brach der Erste Weltkrieg mit der anschließenden Abdankung des Kaisers aus. Die Aufgabe einer klärenden Entscheidung wurde an die Weimarer Republik weitergereicht.
In der Entwicklung der Staatsbauten des Deutschen Kaiserreiches spiegelt sich zunächst die Geschichte der Architektur wider. Das Deutsche Kaiserreich hat keinen nationalen Baustil erfunden, ja nicht einmal einen Versuch in dieser Richtung unternommen. Mit der überwiegend bevorzugten Neurenaissance wählte es nach der Reichsgründung vielmehr einen Repräsentationsstil von internationaler Gültigkeit. Diesem Stil kommt der Löwenanteil unter den Staatsbauten zu. Andere Stilformen spielten eine geringe Rolle. Die Reichsregierung hat auf die in den Architekturzeitschriften der Zeit vielfach diskutierte Frage nach einem nationalen Baustil nicht entsprechend den Erwartungen der Autoren reagiert. Es gab keinen politischen Willen zur Entwicklung einer spezifisch deutschen Staatsarchitektur. Die Kompetenzen für die Gestaltung von Staatsbauten verteilten sich außerdem auf so viele verschiedene Organe, daß es zu einer Zentralisierung der Bauaufgaben nicht gekommen ist. Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck eten dieser Angelegenheit kaum Aufmerksamkeit. Die Zusammensetzung des Reichstages war viel zu heterogen, um hier schnell und dauerhaft zu konsensfähigen Richtungsentscheidungen kommen zu können, doch ist gerade dem Reichstag die Ausschreibung offener Wettbewerbe zu verdanken, die den Staatsbau des Kaiserreiches auf ein internationales Niveau hoben. Diese komplexe Situation erklärt den überwiegend vorherrschenden künstlerischen Opportunismus der Architektur der Staatsbauten des Deutschen Kaiserreiches.
Es hat im Deutschen Kaiserreich nicht an Bemühungen gefehlt, Monumente im öffentlichen Raum zum Zweck der nationalen Selbstvergewisserung zu errichten beziehungsweise vorhandene Werke dafür in Dienst zu nehmen. Anschaulichster Ausdruck des nationalen Selbstverständnisses dieser Epoche waren die deutschen Nationaldenkmäler. Diese überwiegend von Vereinen, Kommunen und Provinzen getragenen
Aktivitäten konnten nicht spurlos an der öffentlichen Architektur des jungen Nationalstaates vorübergehen. So wollten die Nationalliberalen kurz nach der Reichsgründung das Reichstagsgebäude als ein nationales Monument erbauen lassen. Aber das Staatsbauwesen hat diesen politischen Anspruch nicht aufgenommen. Solche nationalistischen Konnotationen spielten bei dem erst ab 1884 realisierten Parlamentsbau kaum noch eine Rolle. Auch als ein radikalnationalistisches, bisweilen völkisch gesonnenes Bürgertum nach der Jahrhundertwende sein neues Nationalgefühl mit dem archaisierenden Monumentalismus des Leipziger Völkerschlachtdenkmales zum Ausdruck brachte, und dieses Bürgertum im Neoklassizismus einen neuen Staatsbaustil zu erkennen meinte, reagierte die Reichsregierung zurückhaltend. Damit beantwortet sich eine der anfangs gestellten Fragen: Die Staatsbauten des Deutschen Kaiserreiches dienten nicht in erster Linie als Instrumente nationaler Politik, eine solche Funktion ist ihnen nur in wenigen Fällen zugemessenden.
Unmittelbare Verbindungen zwischen Architektur und Politik finden sich in der Geschichte tatsächlich nur ausnahmsweise, und stets waren solche Bedeutungen zeitlich begrenzt. Das gilt für den konservativen, historisierenden Monumentalismus, den »Zuckerbäckerstil« Josef Stalins wie für den Monumentalklassizismus Adolf Hitlers. Sehr häufig lassen sich Initiativen für eine rein politisch verstandene Architektur auf mächtige Einzelpersonen zurückführen. Und in allen Fällen ist auf vorhandene Architekturströmungen zurückgegriffen worden, keiner der genannten Herrscher hat seinen selbsterklärten Herrschaftsstil erfunden, es sind lediglich bereits vorhandene Formen modifiziert worden. Im Deutschen Kaiserreich gab es nur einen einzigen spektakulären Fall dieser Art: die Neuromanik Wilhelms II. Dieser dynastische Versuch der Kreierung einer Herrschaftsarchitektur ist aber ebenfalls sehr bald versiegt. Außerdem hat Wilhelm II. keineswegs nur die Neuromanik gefördert, denn in Berlin bevorzugte er beispielsweise den Neubk. Die Reichsbauabteilung wahrte Distanz zu diesen Intentionen des Kaisers.
Aspekte nationaler Identität verbanden sich im Deutschen Kaiserreich nur in Ausnahmefällen mit bestimmten Staatsbauten. Keine architektonische Form und kein Baustil besaß aus sich heraus eine politische Aussagekraft das war übrigens eine charakteristische Erscheinung der gesamten Architektur des Historismus. Für die Staatsbauten des Deutschen Kaiserreiches gilt: Erst kam die Architektur und dann die Ideologie. Bei der Annäherung an die Frage nach der Bedeutung der Staatsbauten für die politische Selbstdarstellung des Deutschen Kaiserreiches ist darum sorgfältig zwischen der Geschichte der Architektur und der Geschichte der politischen Ideen zu unterscheiden. Die nationale Überhöhung eines Stiles oder eines Gebäudes beruhte weitgehend auf Definition. Form und Bedeutung standen in keinem kausalen Verhältnis zueinander. Die Vermittlung einer politischen Botschaft mit Hilfe von Architektur bedurfte des begleitenden, erklärenden Wortes in Schrift oder Sprache oder zumindest der Anbringung allgemein anerkannter Symbole, denn Architekturformen als solche besaßen (jedenfalls seit dem späten 18. Jahrhundert) keine eindeutige politische Aussagekraft mehr.
In dem Maße wie das Reichstagsgebäude in der Zeit seiner Errichtung als politisches Monument ffir den jungen Nationalstaat verstanden worden ist, konnte es als ein Instrument nationaler Identitätsbildung dienen. Dabei ist allerdings der Baustil nicht ausschlaggebend gewesen, denn der war aus italienischer Renaissance und französischer Neurenaissance abgeleitet. Seine komplexe politische Botschaft erschloß sich vielmehr aus dem zeitgenössischen Kontext von Politik und Architektur. Dabei war die Anbringung von Symbolen eine Notwendigkeit, denn ausweislich seiner Architektur hätte das Reichstagsgebäude auch ein Justizpalast sein können. Eine unverzichtbare Voraussetzung für eine nationalpolitische Wirksamkeit dieser Architektur war außerdem ein entsprechendes Vorwissen der Betrachter, das durch die im späten 18. Jahrhundert einsetzenden nationalen Bestrebungen gebildet worden ist. Erst als sich der nationalpolitische Gedanke konkretisiert und gefestigt hatte, konnte er mit einer bestimmten Form (oder einem Staat) in Verbindung gebracht werden. Und diese Form konnte dann verstärkend auf die Betrachter zurückwirken.
Im 19. Jahrhundert sind es in aller Regel ausgewählte, im Stil der Zeit errichtete Bauten gewesen, denen eine besondere politische Bedeutung beigemessen worden ist. Wenn diese zeitgenössische politische Bedeutung eines Gebäudes unterging wie beim Reichstagsgebäude dann konnten sich neue Bedeutungen mit ihm verbinden, die sich von der ursprünglichen unterscheiden. Dafür ist das Reichstagsgebäude auch heute noch das anschaulichste Beispiel: Lange Zeit als Ausdruck wilhelminischen Größenwahnes stigmatisiert, avanciert es seit wenigen Jahren zu einem Symbol nationaler Selbstvergewisserung. Es mutiert zum Zeichen eines geläuterten deutschen Nationalverständnisses, das gute und schlechte Aspekte der nationalen Geschichte integriert. Dieser Prozeß ist Teil gegenwärtiger Bildung von kultureller und politischer Identität mit der Geschichte der Architektur des Bauwerkes hat das nur mittelbar zu tun.
(Dieser Text entspricht dem letzten Kapitel des Buches “Architektur für die Nation?”)


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